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Nedim Türfent : Es lebe die Schlange, die mich nicht beißt.
Worte fliegen ihre Flügel ausbreitend in meinem Kopf. Inzwischen kann ich kaum zwei Silben zusammenfügen. Mein Stift ist seit Stunden stumm. Die Tinte fließt nicht mehr, als wäre mein Stift entwöhnt wie ein Kind von der Muttermilch.
Wie kann es sein, dass ich, der ich normalerweise Seiten und Seiten mit Briefen von diesem Ort der Haft schreibe, nicht einmal ein paar Zeilen eines Briefes schreiben kann? In der Lage zu sein zu schreiben wäre etwas, aber ich habe das Gefühl, dass das Papier selbst unter dieser einfachen Linie leidet.
Wie Wortfetzen in einen Beutel gestopft, kämpfen alle meine Gedanken gegeneinander. Ich bin verloren. Ehrlich gesagt fühle ich mich so steif wie der Saum einer schlammigen Hose oder, was soll ich sagen, als hätte ich Kieselsteine in meinem Schuh.
Aber endlich zündet diese Feder, die ich wie meinen Augapfel, meinen Lebensgrund, beschütze, ein Streichholz in meinem Kopf an. Zu dieser Stunde, wenn die Nacht total dunkel wird, ist ein Funke weit davon entfernt, nichts zu sein. Vor allem, wenn sie in der Spirale einer beispiellosen Verfolgung kämpfen muss, unausgeglichen am Rand einer Klippe, einem blinden Brunnen, wo jemand Sie mit tödlichem Benzin übergießen möchte.
Ich weiß nicht, ob es notwendig ist, dass ich wie ein Archäologe in meinen Erinnerungen suchen muss. Denn seit unserer Verhaftung haben wir eine Reihe von Kalendern aufgebraucht… Während Sie in den letzten fünf Jahren Ihrem gewohnten Alltag nachgingen, und das ist nur menschlich, bin ich der „Gerechtigkeit“ nachgelaufen. Selbst wenn ich weiß, dass das, was nach dieser Stunde kommen wird, keine Gerechtigkeit sein wird…
Zum Glück hat sich die Zunge, die mein Stift ist, plötzlich wieder gelöst. Von nun an können mich selbst Schriftgelehrte nicht mehr einholen.
Sie lesen noch. Dann lassen Sie uns mit unserer Unterhaltung fortfahren.
Ehrlich gesagt, hätte ich Ihnen ins Gesicht gelacht, wenn Sie mir vor fünf Jahren gesagt hätten, dass ich für Jahre ins Gefängnis geworfen werde nur weil ich als Journalist berichtet habe, was ist.
Niemals hätte ich gedacht, dass das Gesetz und unsere Rechte so mit Füßen getreten werden könnten. Wie ein Shuttle, das sich ständig zwischen Akzeptanz und Gewöhnung hin und her bewegt, verwandeln wir uns in dieses Objekt, das das Netz verwebt, das wir für unmöglich und unlösbar hielten. Und das ist das Schlimmste. Heute akzeptieren wir schweigend, als wären all diese Dinge gewöhnlich, die vor nicht mehr als fünf Jahren die größte Empörung hervorgerufen hätten. Wir fallen in unseren Sesseln zusammen, lassen uns in unseren Echokammern nieder und wünschen der Schlange, die uns nicht beißt, ein langes Leben.
Und alle, die es gestern nicht gewagt hätten, uns zu anzufassen, zertreten uns jetzt überall. Ihnen wurde die Möglichkeit auf einem silbernen Tablett serviert und sie waren mehr als glücklich, sie zu ergreifen… Sie? Die Machthaber und ihre Gefährten, denen wir manchmal die andere Wange hingehalten haben. Scharfe Kritik ist angebracht, aber wir sollten auch unsere Versäumnisse sehen… Selbstkritik wäre angebracht.
Eine der Geschichten, in denen die Grausamkeit ihre Zähne schärfte, ist die Geschichte dieses Stiftes. Alles begann mit einer Nachricht: “Sie werden die Macht der Türken zu spüren bekommen!”
In Yüksekova, einer Stadt an der Grenze zwischen Irak, Iran und der Türkei, zwangen türkische Spezialeinheiten 2015 eine Gruppe kurdischer Bauarbeiter nackt auf dem Boden zu liegen und brüllten sie an: „Sie werden die Macht der Türken zu spüren bekommen!“
Ich berichtete über diese Gräuel und es wurde eine Untersuchung gegen diese Polizisten eingeleitet. Aber kurz danach erreichte die Stimme der Rache meine Ohren. Angriffe mit Tränengas, Gummigeschossen, Überwachung, Aggressionen, Morddrohungen, Verhaftung, Folter während der Haft und schließlich am 13. Mai 2016 Inhaftierung. Die Drohungen von JITEM1wenige Tage vor meiner Verhaftung waren besonders beredt: “Wir untersuchen jeden leblosen Körper, den wir holen, um festzustellen, ob er nicht dir gehört.”
Wir waren alle gespannt, welche Art von Gerichtsverfahren ich in einem abgelegenen Bezirk bekommen würde, in dem Strafverfolgung und Rache nicht getrennt voneinander abliefen. Natürlich haben sie zunächst einige sogenannte “Zeugen” vernommen. 19 Zeugen der Staatsanwaltschaft berichteten auch von Folter in Gewahrsam. Sie machten vor Gericht klar, dass sie gezwungen worden waren, gegen uns auszusagen. Machen wir es konkret, um den Ernst des Vorgangs zu erfassen. Die Aussage eines Zeugen lautete wie folgt: “Die Polizei sagte mir: Wenn Sie dieses Papier nicht unterschreiben, ziehen wir Ihnen die Zähne mit einer Zange.” Diese und ähnliche Aussagen wurden auch im Gerichtsprotokoll festgehalten. Alle Zeugenaussagen wurden fallen gelassen. Die Staatsanwaltschaft “brauchte” aber Beweise. Es blieben jedoch nur Nachrichten als “Beweise” in der Akte übrig. Nachrichten über unverhältnismäßige Gewalt, Konflikte und Rechtsverletzungen …
Das Gericht beendete die Verhandlung mit Racheschreien, und ich wurde zu acht Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. In der Urteilsbegründung stand tatsächlich wie ein Geständnis “Weil er unschöne Nachrichten verbreitet hat…”.
Was könnte normaler in einer Region sein, in der Brutalitäten durch die Sicherheitskräfte ungestraft bleiben? Sie erklärten daher, dass diejenigen, die die Öffentlichkeit über Rechtsverletzungen informierten, die Schuldigen seien. Wäre das nur alles gewesen … Die Richter kriminalisierten etwas auf völlig subjektive Weise. Kurz gesagt, die Tatsache, dass Nachrichten nicht zu Gunsten von ihnen gemacht wurden, war ein Verbrechen und aus ihrer Sicht auch der Beweis für meine Verurteilung.
Unter normalen Umständen werden die Menschen für das, was sie tun, verantwortlich gemacht, oder? Ich wurde sowohl dafür bestraft, dass ich den Staat als “störend” bezeichnet habe, als auch dafür, dass ich keine “tröstlichen” Nachrichten geschrieben habe.
Die Polizisten, die zu Beginn Ermittlungen durchführten, wurden höchstwahrscheinlich befördert. Man könnte meinen, wie seien alle gütige Engel…
Einige Monate nach meiner Verurteilung sagte das AKP-Regime, um sich von den Ausgangssperren und unverhältnismäßigen Gewalt- und Rechtsverletzungen in kurdischen Städten frei zu sprechen: “Die Generäle von Fetö2haben dies absichtlich getan, um die Menschen und den Staat gegeneinander auszuspielen.” Aber ich wurde wegen meiner Berichte und der “Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation” verurteilt. Was war das dann? Die Gerichte konnten es jedoch nicht vermeiden, ein “Gütesiegel” für diese gegen uns begangenen Gräueltaten zu sein.
Außerdem bin ich noch kein einziges Mal physisch vor einen Richter gebracht worden. Die EMRK akzeptiert dies als unbestreitbare Verletzung von Rechten, es gibt Dutzende von Präzedenzfällen. Die einzelnen Anträge unserer Anwälte an das Verfassungsgericht und die EMRK in Bezug auf eindeutige Rechtsverletzungen zum Beispiel am Tag des Verfahrens wurden ausgesetzt. Ich denke, diese hohen Richter lieben es, den Vogel Strauß zu spielen!
Ich geniere mich meine Geschichte zu erzählen. Aber man hört nichts von niemandem, weder von den Behörden und vor allem vom Verfassungsgericht. Ich kann mich noch glücklich schätzen, dass ich imstande bin darüber zu schreiben. Es gibt so viele Menschen, die keine Möglichkeiten haben sich Gehör zu verschaffen, und im übertragenen Sinne mit Stiefelabdrücken auf dem Rücken hinter Gefängnismauern… Ich zögere, die eigene Geschichte zu erzählen, ich empfinde Scham.
Meine Bitte an Sie ist, lesen Sie diesen offenen Brief “stellvertretend für die Briefe vieler Gefangener”. Dann könnte es im Rahmen dieser Geschichte “Gerechtigkeit für alle” geben.
Dieser bescheidene Stift sagt das, schreibt das. Dieser Brief ist nicht damit Sie antworten, sondern damit Sie wissen …
Mit der Solidarität und dem Widerstand des Stiftes, bis die Spitze bricht…
Nedim Türfent
Van Gefängnis. 14. April 2021, 1800. Hafttag
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Van Yüksek Güvenlikli Kapalı Ceza İnfaz Kurumu
A‑44
VAN – TURKEI